Kolumne: Airport mi amor: Vom Flughafen abgeholt werden

Gibt es etwas Besseres, als am Flughafen abgeholt zu werden? York Pijahn sagt: nein. Und fragt sich, warum das so ist

Ich mag den Moment, wenn die Stewardessen im Flugzeug das Licht herunterdrehen. Wenn ich in der letzten Maschine nach Hause sitze, von Frankfurt oder München aus – zurück nach Hamburg. Wenn sich das Flugzeug im Landeanflug in die Kurve legt wie ein Wal in schwerer See. Wenn es dunkel wird und draußen die Stadt unter einem glüht wie etwas, das am Meeresboden liegt. Auch die zähesten Geschäftsreisenden, die in ihren schlecht sitzenden hellgrauen Anzügen und Kurzarmhemden aussehen, als seien sie Azubis im Außendienst der Telekom, gucken dann aus dem Fenster. Sie klappen das Laptop zu. Sie hören auf, die Nüsse aus den kleinen silbernen Tüten zu mampfen und schauen, ob sie irgendwo unter sich ihr Haus sehen können. Das Bekannte, da unten. Die Stewardessen, diese effekthascherischen Biestchen, wissen genau, warum sie das Licht runter drehen. Denn kein Passagier kann sich diesem Gefühl entziehen. Es ist kitschig und unschlagbar: nach Hause kommen.
Ich habe seit Jahren einen Lieblingsfilm: Er heißt „Tatsächlich…Liebe“ – und ist eine unfassbare Schmonzette. Hugh Grant, unsicher und dusselig, wie nur Hugh Grant unsicher und dusselig ist, spielt den britischen Premierminister. Und er verliebt sich wie bekloppt, so wie jeder in dem Film. Das ganze spielt zu Weihnachten und endet nicht mit einem, sondern einem ganzen Dutzend Happy Ends. Der Zuschauer hat emotional gegen diesen Film so wenig Chancen wie ein Bergsteiger, gegen eine Eislawine in der Eiger Nordwand. „Man wird einfach umgebollert“, wie meine Mutter sagen würde. Das Beste an dem Film ist der Vorspann. In ihm sieht man Leute, die an einem Flughafen von Freunden abgeholt werden. Dicke Freundinnen, und ich meine dicke, sogar nach nordenglischen Arbeiterklassen-ich-trinke-gern-morgens-schon-mal-fünf-Bier-Maßstäben DICKE Freundinnen, rauschen ineinander und nehmen sich in die Arme. Papas herzen Mamas. Bleistiftdünne Opas klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Es ist herzzerreißend, man wird umgebollert. Die Kommentator-Stimme aus dem Off sagt derweil, dass wir in einer kalten Welt Leben, aber wer am Flughafen-Gate wartet, der spürt, dass wir von Liebe umgeben sind. Liebe überall.
Vom Flughafen abgeholt werden ist in meinem Freundeskreis ziemlich aus der Mode gekommen. Seit sich alle die ich kenne Taxis leisten können, braucht keiner mehr Freunde, die einem vom Flughafen durch die Nacht nach Hause kutschieren. So wenig wie man Freunde braucht, die einem beim Umzug helfen. Die freudlose Erwachsenenlogik dahinter ist einfach: Man kann es sich jetzt ja endlich leisten, unabhängig zu sein, man will niemandem auf den Wecker gehen und Zeit klauen, die derjenige ja auch im Bett oder bei der Familie verbringen könnte. Die Zahl von „Willkommen Stulli!“, „Welcome Felix!“ oder „Endlich wieder da York!“ Schildern, die ich in der letzten Zeit von meinen Freunden gesehen habe, ist so gering wie die Zahl von Pygmänen, die zur Zeit in meinem Badezimmerschrank campieren. Sie tendiert gegen null.
Vor meinem letzten Rückflug nach Hamburg hatte ich eine Woche in München gearbeitet. Mehr als sieben Tage von zu Hause weg zu sein, ist – und ich weiß wie nölig das klingt – anstrengend. Ich will dann nicht mehr morgens auf dem Weg ins Hotelzimmerbad barfuß über klebrigen Teppichboden laufen. Ich will keinen Fernseher, der gegenüber vom Bett an die Wand geschraubt ist, als wolle ich ihn mitgehen lassen. Ich will nach Hause. Als sich beim Rückflug nach Hamburg das Flugzeug in die Kurve legte, klappte ich meinen Laptop zu, guckte aus dem Fenster – und musste an meinen Bruder denken. Wir hatten uns auf eine ziemlich sinnlose, tiefschlaghafte Art am Telefon gestritten, uns wieder ein bisschen vertragen, aber es knirschte noch zwischen uns, die Handbremse der Bruderliebe war noch angezogen. Die Maschine landete, ich holte mein Gepäck vom Rollband, dann stand er da: mein, Bruder, die Hände im Anorak, ein schiefes Grinsen im Gesicht. Er habe sowieso in der Stadt zu tun gehabt – sagte er. Es sei doch nicht nötig gewesen mich abzuholen – sagte ich. Kurz: Wir überspielten die Freude einander zu sehen auf diese durchsichtige Pseudo-Erwachsenenart, worüber wir beide lachen mussten. Um uns herum nahmen die Mamas die Papas in den Arm. Die dicken Freundinnen einander ebenso wie die alten Opas. Mein großer Bruder klopfte mir großbrüderlich auf die Schulter und schnappte sich meinen Rollkoffer. Wir stiegen in sein rotes Angebercabrio, in dem man nah beieinander sitzt, das Verdeck war offen, es war kalt, windig und trotzdem behaglich.
Es ist sehr schön vom Flughafen abgeholt zu werden. Und man macht das viel zu selten. Es ist aufwendig, sicher. Aber es ist auch: intim, herzlich, man fühlt sich aufgehoben und stolz, dass jemand auf einen gewartet hat. Man ist zu Hause und nicht nur einfach zurück. Ich glaube, ich werde das meinem Bruder mal sagen.
Aber ich denke, er weiß es schon.

Meine Kolumne erscheint jeden Monat auf der letzten Seite der myself. Gesammelt findet man sie in dem 2010 bei Random House erschienen Buch „Operation Glückskeks“.