Reportage: D-DAY FÜR DIE GANZE FAMILIE

3500 Hobbysoldaten spielen in Oklahoma den Zweiten Weltkrieg nach — und zwar die Landung der Alliierten in der Normandie. Ein Frontbericht

GOOOOOD MORNING, VIETNAM! Die Lautsprecherstimme plärrt vom Wachturm aus über die Baumwipfel. Sie schwebt über Campingbussen, Pick-up-Trucks und schneidet durch die Stoffwände von Armeezelten.
Es ist sechs Uhr früh in Oklahoma. Die Sonne scheint, das Thermometer steht auf 26 Grad. Zeit, den Krieg zu beginnen.
„Jungs, raus aus den Betten, wir haben hier gleich einen Militärgottesdienst. Ein kleines Gebet kann nicht schaden, denn ihr seid beim Oklahoma D-Day. Geeeeet ready.“ Die Stimme aus dem Lautsprecher gehört Dewayne Convirs. Der 40-Jährige ist der Chef des Oklahoma D-Day. Einmal im Jahr wird unter seiner Leitung die Landung in der Normandie nachgespielt. 3500 Freizeitsoldaten prallen in einem zwei Quadratkilometer großen Waldgebiet aufeinander und beschießen sich mit Farbmunition aus so genannten Paintball-Gewehren. Wer von einer der mit orangefarbener Flüssigkeit gefüllten Kugeln getroffen wird, geht für eine halbe Stunde vom Platz. Die Hobby-Militaristen müssen festgelegte Orte im Gelände erobern. Dafür bekommen sie Punkte. Wer am Ende die meisten hat, gewinnt.
Der D-Day ist ein Kriegsspiel in Original-Uniformen. Selbst gebastelte Sperrholzpanzer walzen durchs Gelände. SS-Abzeichen, Wehrmachtsuniformen, die Reichskriegsflagge — alles erlaubt. Nur Hakenkreuzfahnen sind seit zwei Jahren verboten. Es ist ein Maskenball mit Marschmusik — eine Freakshow in Feldgrau. Und ein Klassentreffen: US-Veteranen aus Panama, Grenada und dem Irak ziehen hier einmal im Jahr wieder ihre alte Uniform an und kehren aufs Schlachtfeld zurück. Rund 15 Prozent aller Teilnehmer sind Kriegsveteranen.
„Sir, yes, Sir!“ Der Ton auf dem Gelände ist militärisch, humorfrei, laut. Männer, Frauen und Kinder aus den USA, Südamerika und Europa sind gekommen. Mindestalter: zehn Jahre. Auch zwei deutsche Spieler sind dabei. Dewayne Convirs ist zufrieden: „So viele Leute waren es noch nie.“
Lichtflecken fallen durch das Tarnnetz auf die 40-köpfige Gemeinde, als Pastor Marty Johnson, 38, beim Militärgottesdienst über die Sünde redet. In den Bankreihen sitzen Teenager, die sich auf Kisten mit Paintball-Munition stützen, daneben Familienväter. Sünde, das bedeute, Fehler zu machen, sagt Johnson.
Sünde, das sei, wenn man sein Ziel verfehlt. „So wie beim Paintball, wenn eure Kugeln nicht treffen“, erklärt er. „Play hard, pray harder“ steht auf seinem T-Shirt: Spiele hart, predige härter. „Oh Lord, mach, dass unsere Farbmunition geradeaus fliegt. Amen.“ Die Gemeinde senkt die Köpfe. In einer halben Stunde geht der Bus an die Front.

9.22 Uhr, zwei Kilometer entfernt: 37 Soldaten, die Gesichter hinter olivfarbenen Schutzmasken verborgen, die Gewehre im Anschlag, hocken in dem Landungsboot, das mit Hilfe eines Stahlkabels über das Wasser eines Waldsees gezogen wird. In zehn Wellen wollen die Alliierten hier landen, auf dem Kiesstreifen, den sie nach dem historischen Vorbild in Frankreich „Omaha Beach“ nennen. Die Ladeluke schließt sich. Das Boot legt ab. Noch 30 Meter in Richtung der Betonbunker am jenseitigen Ufer und der dahinter liegenden, bewaldeten Hügel. Aus dem Funkgerät des Offiziers, der die ersten Soldaten anführt, kommt die Stimme eines der 80 Schiedsrichter, die überall im Waldgebiet verstreut stehen, um die Schlacht zu überwachen. Es ist 9.30 Uhr. „Drei, zwei, eins. Game on!“
300 Stundenkilometer schnell sind die Paintball-Kugeln, die jetzt auf der Außenseite des Bootes einschlagen. Ein gutes Paintball-Gewehr verschießt 60 Schuss pro Sekunde, die Munition hinterlässt blaue Flecken, so groß wie ein Hühnerei. 400 Waffen sind in diesem Augenblick auf das kleine Boot gerichtet. Später wird einer der Schiedsrichter sagen, dass an diesem Tag 14 Millionen Schuss abgegeben wurden. „Ob ich Angst habe? Mann, ich mach mir richtig in die Hose!“, faucht ein 15-jähriger Junge, der vorn an der Luke steht. Dann öffnet sich die Bordwand.
Geschosse hageln auf die Soldaten, zerplatzen auf Helmen, Uniformjacken, überall. „Nach links, in den Schützengraben. Go!“ Die Wucht der Geschosse ist so groß, dass sie auf kurze Distanz auf nackter Haut Platzwunden hinterlassen können. Deshalb tragen viele der Soldaten trotz der Hitze Handschuhe, lange Hosen und Knieschoner, als sie sich die 20 Meter Richtung Schützengraben schleppen.
Von dort aus kriechen sie einen Waldhang hinauf in die so genannte Dead Zone, die Todeszone. Hier sammeln sich alle getroffenen Soldaten, um eine halbe Stunde auszusetzen. Schwarze Netze zwischen den Baumstämmen schützen die Männer vor weiterem Beschuss von der 200 Meter entfernten Front. Die Atmosphäre gleicht der in der Umkleidekabine nach einem Fußballspiel. Maske vom Gesicht. Wasserflasche. „Mann, ich bin elfmal getötet worden. War das ein Spaß!“
Gordon Gregson, 44, kennt den Krieg. Und zwar den echten. Nur zwei Monate ist es her, dass er in einem gepanzerten Militärjeep durch das Zentrum von Bagdad patrouillierte. Die Bombe eines Selbstmordattentäters riss seinen Kameraden Michael Smith in Fetzen. Smiths Name steht jetzt neben sieben anderen auf einem silbernen Armband an Gregsons Handgelenk.
Hier in Oklahoma spielt er den General eines Ranger-Bataillons, das die Aufgabe hat, eine Stellung hinter dem Omaha Beach anzugreifen. Vom Waldrand aus sieht er, wie seine Männer eine deutsche Stellung beschießen. Er sei schon viermal hier gewesen und wolle auch diesmal nicht kneifen, sagt er. Paintball sei ein großartiger Teamsport. „Aber heute habe ich Angst, die Kontrolle zu verlieren.“
Die Deutschen hätten diesmal wirklich gute Chancen zu gewinnen, hatte Spielleiter Dewayne Convirs am Abend vorher verraten. In den sieben vergangenen Jahren waren sie viermal am Ende die Sieger. Viele erfahrene Spieler hätten sich schon vor Monaten online bei den „Germans“ eintragen lassen. „Vermutlich weil sie finden, dass es besser ist, am Strand Leute abzuknallen, als selbst abgeknallt zu werden“, sagt Convirs.
So mancher der für das deutsche Team spielenden Kriegsveteranen offenbart ein krudes Geschichtsverständnis. Der Nationalsozialismus schrumpft auf eine einfache Formel zusammen: Gute Mannschaft — schlechter Trainer. „Wenn ich im Deutschland der 30er-Jahre gelebt hätte? Ich wäre natürlich zur SS gegangen. Die waren so cool“, sagt ein ehemaliger kanadischer Geschichtslehrer, der sich Pig Pen nennt.
Er scheint den Blödsinn, den er redet, wirklich zu glauben. Einen Kilometer vom Omaha Beach entfernt, steht der 48-jährige Harold Cox hinter seiner selbst gebauten Kanone, auf die er „Harold’s Folly“ — Harolds Verrücktheit — gepinselt hat. Der Apotheker aus Missouri feuert mit je 35 Farbkugeln gefüllte Klopapierrollen auf seine Gegner. Letztes Jahr hat er einen Journalisten am Kopf erwischt, der Mann ging ohnmächtig zu Boden. Harold Cox grinst stolz und strafft die schmalen Schultern, wenn er diese Geschichte erzählt. „Seitdem weigert sich meine Frau, zum D-Day mitzukommen.“ Auf seiner Brust hängt ein deutsches Verwundetenabzeichen. Das habe er sich verdient, weil er fünf Bypass-Operationen überstanden habe und eine Nierentransplantation, sagt er.
Drei Stunden nach der Landung der ersten Boote geht einigen Hobbysoldaten die Puste aus. Wer nach mehreren Aufenthalten in der Dead Zone nicht mehr zurück in den Krieg will, der schlendert ins D-Day-Café in der Nähe des Zeltplatzes, um Cheeseburger zu essen, oder er setzt sich auf eines der umgebauten Golf-Carts und lässt sich von einem Schiedsrichter zu den Duschen chauffieren.
Um 15 Uhr wehrt sich nur noch eine Gruppe von zwölf deutschen Soldaten gegen 200 Alliierte. In einem alten Flugzeughangar haben sich Tobias Meiser, 24, und Markus Schell, 24, aus Crailsheim verschanzt. Sie sind 16 Stunden geflogen, um beim D-Day den Finger am Abzug zu haben. Die Soldaten außerhalb der Halle werfen Rauchbomben. Ein Panzer, auf den mit schwarzer Farbe das Wort „Ausrotten!“ gesprayt ist, feuert auf die Männer im Hangar. Im Inneren dröhnt es wie am Boden einer Blechtrommel. „Ich habe keine Munition mehr … Okay … Gebt mir Feuerschutz … Verdammt, mich hat es erwischt.“ Es klingt, als seien die Sätze aus einem Drehbuch abgeschrieben. Die Verteidiger müssen nach zwei Stunden alle in die Todeszone. Der Krieg ist aus. Die Deutschen haben verloren.
Tobias Meiser schiebt sich die Schutzmaske vom Gesicht: „Klar macht das hier Spaß. Aber wie die Amis auf die ganzen Naziklamotten abgehen, ist schon krank. Ich dachte, das hier ist ein Spiel.“
Als die Hobbysoldaten aus dem Wald zurückkommen, hat die Nationalgarde ihr Zelt neben den Duschen aufgeschlagen, um Soldaten anzuwerben. Zurzeit liegt die Rekrutierungsrate 47 Prozent unter dem Soll. Amerika braucht Nachschub für den Irak-Einsatz und Afghanistan. Sergeant George C. Lowry zerhackt mit einer Machete eisgekühlte Wassermelonen und verteilt die Stücke an die Paintball-Spieler. Wer will, der kann gleich bei ihm für eine Militärkarriere unterschreiben. 24 junge Männer haben sich Informationsmaterial mitgenommen und ihre Telefonnummer dagelassen. Lowry strahlt: „Das ist doch schon mal ein guter Anfang.“
Als der D-Day zu Ende geht, explodieren am Nachthimmel die Raketen eines Feuerwerks. Ein Irak-Veteran, der, auf einen Stock gestützt, durch das Camp humpelt, beginnt am ganzen Körper zu zittern. Bei jeder Explosion zuckt er zusammen. Dann bricht er in Tränen aus und ruft nach Hilfe. Ein Freund legt ihm die Hand auf die Schultern und führt ihn zurück in sein Zelt. „Es ist okay. Es ist nur ein Spiel. Keine Angst. Nur ein Spiel.“