Kolumne:
Die Rache ist mein

York Pijahn schlägt in Sachen Urlaub diesen Sommer über die Strenge. Total verboten. Trotzdem richtig. Oder?

Es gibt ein Wort, das für mich die letzten zwei Corona-Jahre perfekt beschreibt: Boah. Boah, war das anstrengend. Boah, war das nervig. Boah habe ich oft die Kinder während des Homeschoolings angepfiffen, mich parallel durch die immer gleichen Homeoffice-Tage gestümpert – um dann nachts auf dem Balkon sitzend schwermütige Weltlage-Nachrichten auf dem Handy zu lesen. Wisch-Wisch. Jammer-Jammer. Weißwein-trink, Weißwein-trink. Ein Leben im Lockdown, das sich auch nach der Zurücknahme der Kontaktbeschränkung oft so anfühlte: anstrengend, spaßfrei, die Handbremse des Lebens bis zum Ohr angezogen. Doch damit ist jetzt Schluss. Jetzt kommt der Sommer und es gibt einen neuen Reisetrend, bei dem ich sowas von vorne mit dabei bin: Revenge Travel. Zu deutsch: Rache-Reisen. Gemeint ist damit das ungebremste Ausleben von allem, worauf man in den Corona-Monaten verzichtet hat.
Der revenge-travellnde Erwachsene ist kein Urlauber; er oder sie ist eine verletzte Seele. Man hat ihm oder ihr Lebenszeit geklaut, er oder sie ist komisch im Zeitraffer gealtert, er oder sie hat aufgehört die Streits zu zählen, die mit dem Schluchzer endeten: „Vielleicht brauchen wir einfach Urlaub.“ Genau. Urlaub. Attacke! Der Revenge Traveller gibt jetzt sein Erwachsenen-Ich an der Garderobe ab, schaltet in den Kindermodus und will alles: Kreuzfahrt, Vier-Sterne-Hotel, Finca, all you can eat, drink, shop, whatever. CO2 Bilanz egal, Geld egal. 40 000 Deutsche flogen mit der Tui zu Ostern nach Mallorca, ein koreanischer Fluganbieter meldete Ende März via Twitter, die Zahl der Buchungen sei im Vergleich zum Vorjahr um das achtfache gestiegen.
Meine Freundin und ich sind wie gesagt voll dabei. Wir haben gebucht: Flug nach Neapel, zu großer Aufschneider-Mietwagen, dann einen Monat (seit wann können wir uns das leisten?) in einem Ferienhaus, das im Internet wie eine Mischung aus Bondbösewicht-Villa und Pornoproduzenten-Retreat mit Pool aussah. Wenn es auf der Website möglich gewesen wäre, hätten wir vermutlich auch noch Ponys, Motorräder und tägliche Zahnreinigung dazugebucht.

Als meine Freundin und ich den Urlaub gemeinsam am Laptop aussuchten, fühlte sich das an wie Drogen kaufen im Dark Net. Lustvoll und verboten: Denn der Revenge Traveller erinnert sich an all diese endlosen Lockdown-Spaziergänge. Ich weiß gar nicht, wie oft ich durch den Lockdown latschend Sätze wie diese hier gesagt habe: „Ja, alles Mist, aber schon gut für die Umwelt, oder? Dass mal nicht geflogen wird, oder? Kaum Autos auf der Straße, super, oder?“ Revenge Traveller wie meine Freundin und ich werden an diese Sätze nicht so gern erinnert. Und falls es doch einer tut, haben meine Freundin und ich eine Art Notfall-Argumente-Koffer. Ich mache ihn mal kurz auf, ja? Argument 1: „Jaaaa, wir zahlen aber auch eine extra CO2-Abgabe. Ist uns gaaanz wichtig.“ Was ja so sinnvoll ist, wie die Wohnung abzubrennen und nachher Girlanden aufzuhängen. Argument 2: „Man muss aber auch an all die Café-Besitzer und Firlefanz-Verkäufer vom Strand denken, all diese guten, hart arbeitenden Menschen, die brauchen uns. Gerade…jetzt!“ Argument 3, meine Favorit: „Wir haben doch alle in der letzten Zeit gespürt, wie endlich das Leben sein kann. Das sollten wir nicht vergessen.“ Schnüff. Mit dem Carpe-Diem-Ding lässt sich einfach alles wegargumentieren und ich bin jedesmal selbst ein bisschen angefasst.
Der Revenge Traveller hat sich dabei zugehört, wie er all diese Argumente hervorgebracht hat. Wir haben uns selbst und all die anderen halb überzeugt. Was nix daran ändert, dass wir eine Pause brauchen. Von der Enge, den Regeln, der Taktung, der Wohnung, den Sorgen. So bräsig es klingt: von uns selbst. Und dann stehen wir im Sommer 2020 am Rand eines Pools. Aufgehitzt und voller Sonnencreme. Man müsste jetzt duschen, Sand aus den Shorts schütteln, die Poolleiter nehmen. Aber das werden wir nicht tun. Wir werden Anlauf nehmen und eine unfassbare Arschbombe machen und kurz mal die Kontrolle verlieren. Aus Rache. Und aus Freude. Boah.