Reportage:
Im Sturm

Windstärke zwölf, drei Meter hohe Wellen. Wenn sich die See in ein brüllendes Gebirge verwandelt, reiten die 30 besten, deutschen Windsurfer dem Orkan entgegen. Entlang einer dünnen Linie, die Sport und Wahnsinn trennt.

November, 36 000 Kilometer über der Ostsee: Der Wettersatellit Meteosat 9 sendet ein Bild vom All zur Erde, das später europaweit in den Nachrichtensendungen zu sehen sein wird. Es zeigt eine dreitausend Kilometer lange Zunge, bestehend aus Wolken, Regen, Schnee und Hagel. Ein 140 Stundenkilometer schneller Polarwind schiebt sie voran, angetrieben von einem Orkantief über der Norwegensee. Aus der Warte des Satelliten sieht das Wetter, das kurz darauf auf die Ostseeküste prallen wird, wie eine Herde von weißen, galoppierenden Tieren aus. Ab 120 Kilometer pro Stunde sprechen Meteorologen von einem Orkan. Hier kommt etwas Größeres.
Etwa zur gleichen Zeit watet Daniel Jamaer, 30, in die vier Grad kalte Ostsee – sein Surfbrett im knietiefen Wasser gegen die Brandung schiebend. Ein drei bis fünf Zentimeter dicker Neopren-Anzug, bedeckt seinen Körper, der schmale Gesichtsausschnitt der Kapuze lässt nur eine Hand voll unbewegter Mimik zu. Der Sturm reißt an den Spitzen der drei Meter hohen Wellen, dann schwingt sich Jamaer auf sein Brett. Das Segel knattert und schon frisst sich das Board am Rand der Brecher entlang. 35 Stundenkilometer schnell schießt er voran, dann springt er: Drei, vier, fünf, sechs Meter hoch fliegen Brett und Segel über den Kamm der Welle hinaus und in die Luft, bevor sich Surfer und Board zu einer Vorwärtsrolle drehen. Für die Dauer eines Wimperschlages friert das Bild ein: Ein Mann. Kopfüber vor dem Horizont – dann tauchen Surfer und Brett zurück ins Grau der Ostsee.
Es ist einer der Tage, an dem das Meer einem zubrüllt: Verschwinde, sonst bringe ich Dich um. Häfen wie Rotterdam haben sich mit Fluttoren vor dem anrollenden, grauen Gebirge aus Wasser verbarrikadiert. Kein Vogel ist mehr in der tosenden, salzig-schmeckenden Luft, der Horizont schimmert grau-grün, wie seekrank. Daniel Jamaer, der Mann, der in diesen Augenblick wieder über einen Wellenkamm hinausschießt, ist einer von 30 Windsurfern, die monatelang auf diesen Tag gewartet haben. Auf den Beginn der „Red Bull Big Days“. Bei diesem Wettbewerb treten die besten deutschen Windsurfer gegeneinander an, in einem der schlimmsten Stürme der Saison. Je acht Minuten müssen die Fahrer in Gruppen von zwei bis fünf Sportlern spektakuläre Sprünge und Wellenritte zeigen. 21 Ausscheidungsrunden lang, mitten im Orkan.
Parallel zum Horizont faucht Hagel über den Strand und die zwei Dutzend Surfer, die in Gruppen beieinander stehen. Er prasselt auf knielange Neopren-Mäntel und Overalls, die die Sportler wie Bohrinselarbeiter aussehen lassen. Daniel Jamaer ist aus den Wellen zurück. Fünf Minuten Pause, dann muss er wieder ins Wasser zur nächsten Ausscheidungsrunde. Die bloßen Hände hat er unter die Achseln geschoben, um warm zu bleiben. Wenn er die Handflächen aneinander reibt, sieht man die grauen Schwielen, die der Sport nach Jahren hinterlassen hat, die aufgeplatzten Blutblasen. Mit seinen beiden jüngeren Brüdern war er schon vor Norwegen, Irland, Südafrika, immer dem nächsten Tiefdruckgebiet hinterher, bezahlt mit dem Geld, das er als Maschinenbauingenieur verdient. Auf der Suche nach dem, was Surfer „gute Bedingungen“ nennen: Wellen, starker Wind entlang des Strandes, Temperatur egal. Heute? „Ist ein guter Tag“, sagt Jamaer, als ginge ihn seine Gänsehaut, seine rotgefrorenen Wangen nichts an.
Neben ihm lehnt Klaas Voget. Der 28jährige Ostfriese ist einer der fünf oder sechs Deutschen, die dank Sponsorenverträgen vom Ritt auf den Wellen leben können. „Das hat hier nichts mit dem Surfen zu tun, das man von früher kennt, mit neon-farbenen Segeln auf dem Badesee“, sagt er. Das Material sei heute belastbarer erklärt er, die Segel klein, die Bretter kurz und die Sprünge so waghalsig, dass sich die Windsurfer als Extremsportler begreifen.

Der Beweis lässt nicht lange auf sich warten. Weit draußen, im Nordwesten, gleitet ein Surfer langsam an einer sich überschlagenden Wellenspitze entlang. Zu langsam. Wie eine Falle aus tonnenschwerem Eiswasser schnappt die Drei-Meter-Welle zu, bricht zusammen, reißt den Mann mit sich und hinab. „Waschgang“ nennen das die Profis. „Man fühlt sich da unten wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit“, erklärt Daniel Jamaer. Die Augen geschlossen, trudelt man durch die Dunkelheit, Arme und Beine wie ein Fötus angezogen. „Man ist ganz auf sich allein gestellt.“ Die zehn, fünfzehn Sekunden ohne Luft fühlen sich wie Minuten an, wenn der Surfer nicht mehr weiß, wo die Wasseroberfläche ist und der Körper nach Sauerstoff brüllt. So viel Wucht haben manche Wellen, dass sie einen Surfer, der vor dem Ansturm der Welle abzutauchen versucht, aus drei Meter tiefe ansaugen und mit sich reißen können.
Hinzu kommt die Temperatur: „Wenn Du an einem Tag wie diesem vom Brett fällst, dann beißt Dich das Wasser ins Gesicht, als habe man ein Stück Eis geschluckt“, sagt Voget. Dann geht auch er in die Wellen.
Der Sturm klingt jetzt wie die Basstöne einer großen Orgel. Immer stärker wird der Wind, immer höhere Wellen wälzen sich an den Strand. Jetzt geht es nur noch darum, auf dem Brett zu bleiben, nicht vom „Material getrennt werden“, wie es die Windsurfer nennen. Denn bei Windstärke zehn bis zwölf verschwindet die rund 2 500 tausend Euro teure Ausrüstung schnell in der Unerreichbarkeit der nächsten Welle. Im Achtelfinale sind Daniel Jamaer und Klaas Voget als Gegner auf dem Wasser. Bretter überschlagen sich und jagen über Wellenkämme hinaus. Zehn Meter über der Wasseroberfläche zeigt Klaas Voget einen Back-Loop, einen Sprung nach vorne, bei dem der Surfer an der höchsten Stelle über die Schulter zurück ins Meer sieht dann einen Salto rückwärts macht. Auf dem Scheitelpunkt des Sprungs bietet sich ein Blick wie aus der dritten Etage eines Hauses: Wellenkämme als weiße Halbkreise, die Segel der Konkurrenz, ein Fetzen Strand, dann holt einen die Schwerkraft zurück.
Die Silhouetten der Sportler sind vom Strand aus kaum noch zu erkennen, als die Dämmerung auf den Strand kriecht. Daniel Jamaer ist ausgeschieden und Klaas Voget im Finale. Die letzte Fahrt des Tages entscheidet der immer stärker werdende Sturm. Voget, eben noch durch das Tal einer Welle reitend, wird nach einer Wende von Wind umgeworfen. Dann nimmt der Sturm Segel und Brett mit in Richtung Strand, wie ein Spielzeug, mit dem ein großer, grauer Hund herumtobt. Voget schwimmt seinem Brett hinterher, bis sich die Welle hinter ihm, die wie eine geöffnete Hand aus Wasser aussieht, zur Faust schließt. Waschgang. Das Rennen ist vorbei.
Der Sieger des Tages, Lars Gobisch, ein Arzt aus Kiel, steht kurz darauf mit denen, die den Tag am Meer ausgehalten haben, im Windschatten eines am Strand geparkten Geländewagens. Händeschütteln, Schulterklopfen, wie Schiffbrüchige stehen die Männer beieinander. Das Meer hat sie an den Strand gespuckt, auf durchfrorenen Gesichtern blitzt ein Lächeln.
Am nächsten Morgen hat der Wind nachgelassen und die Wellen nippen müde am Ostseesand. In den Nachrichten ist die Rede von einem Schiff, dem Böen auf der Nordsee 45 Container vom Deck gerissen haben sollen. Und von einem Kite Surfer wird berichtet. Der Orkan zerfetzte vor Fehmarn seinen Drachen und der Mann trieb zwei Stunden in der Orkansee, bevor er schließlich stark unterkühlt geborgen wurde. Manchmal liegen Sport und Wahnsinn eng aneinander – nur getrennt von einer dünnen Linie, auf welcher der Wind mit Stärke zwölf bläst. Warum das alles? Daniel Jamaer denkt über die Frage einige Augenblicke nach: „Weil da draußen die Freiheit ist. Weil Du nirgends sonst so spürst, dass Du lebst.“