DIE ZEIT | No 13 | 27. März 2025
Marie dreht auf
Nächte im Hafenklang, Tage am Schulterblatt: Seit YORK PIJAHN in Berlin lebt, ist Hamburg für ihn Vergangenheit. Dann findet seine achtjährige Tochter eine geheimnisvolle Kiste
Wir sind hier, um das Rätsel zu lösen, ich sehe es im Blick von Marie, meiner achtjährigen Tochter, die sich auf dem Bahnsteig umschaut. Wir stehen an Gleis drei
des Dammtorbahnhofs, die Stadt leuchtet; der ICE, der uns von Berlin aus hierhingebracht hat, rauscht in die Dunkelheit davon. Ich bin wieder hier, in Hamburg. Endlich.
Vor 13 Jahren bin ich weggezogen, nach Berlin. Zu meiner Freundin, die jetzt meine Frau ist und mit der ich ein Leben in Kreuzberg habe: Altbauwohnung, Hafer-Latte, Lichterketten, Homeoffice, große Liebe, zwei Kinder. In Hamburg habe ich noch ein WG-Zimmer. Weil ich hier oft zu tun habe und weil ich, seien wir ehrlich, nicht ganz loslassen kann. Das Superleben an der Elbe, die Restjugend, die Jahre zwischen 24 und 38, die ich als eine Abfolge von Nächten im Hafenklang, Tagen am Schulterblatt und Schnitzeln im Abaton erinnere.
Für meine Kinder klingt die Stadt nach einem Fotoalbum, in das ich alle paar Wochen reise. Und, ich sehe das im Blick meiner Tochter, es klingt auch ein bisschen verdächtig. Ein zweites Zuhause, warum? Das ist das Rätsel. Und Marie ist mit mir für ein Wochenende in Hamburg, um es zu lösen. Es ist ein Besuch, aber auch eine Inspektion durch die Augen einer Achtjährigen. Und dann? Passiert die Sache mit den Kassetten.
Mein WG-Mitbewohner ist für ein Wochenende in Madrid, Marie durchstreift die Wohnung wie eine Katze. Mein hyperaufgeräumtes Zimmer mit den weißen Möbeln und dem Astronautengemälde. »Und wo sind deine Sachen von früher?«
- »Auf dem Dachboden, das Zimmer ist ja klein.«
- »Können wir da hoch?« – »Jetzt? Da ist es stockdunkel …« – »Bitte!«
Treppe, Metalltür, Lichtschalter und dann das Durcheinander von Pappkartons, die zu oft rumgetragen wurden. Bücherkisten, Reste eines Rennrades, alles quillt über. Mit schleifendem Geräusch zieht Marie eine Box aus dem Chaos. »Was ist das, Papa?« Die Kiste mit den Mixtapes, mehr als hundert Kassetten. Ich beuge mich vor. Meine Tochter flappt die Deckel auseinander.
Man könnte jetzt dramaturgisch ein bisschen Aufbauarbeit leisten und die Temperatur langsam hochfahren, aber das wäre gelogen. Es gibt kein Warm-up, als der Pappdeckel aufgeht, sondern sofort maximale Hitze. Alle meine Gefühlsregler sind sofort auf zehn, die Magie ballert aus allen Rohren. »Das sind meine alten Mixtapes. Musikkassetten, die haben wir uns früher gegen- seitig aufgenommen und geschenkt. Oder man hat sie sich selbst aufgenommen.« – »Und sich selbst geschenkt?« – »Ja, auf eine Art schon.« Jedes der Tapes steckt in einer selbst gestalteten Hülle: Auf einem Cover ist der junge Mike Tyson zu sehen, auf einem anderen kleben Sterne, die sich an den Seiten aufrollen, Viele der Cover sind beinahe Kunstwerke.
Dann geht das Dachbodenlicht, das mit einer Zeitschaltuhr gesteuert wird, plötzlich aus. Marie schreit kurz auf, ich mache die Handylampe an. Im Lichtschein lese ich die Namen der Tapes vor: Olli Hop, ein Hip-Hop-Tape, das mir einer meiner großen Brüder aufgenommen hat. 1998. Best of Talk Talk, 1991 aufgenommen von meinem Abifreund Frank, den ich in der Oberstufe kennengelernt habe. Die Kassette war sein Freundschaftsangebot – ohne Worte, stattdessen: Musik und die in Franks ordentlicher Ameisenschrift notierte Tracklist. Living in Another World hieß der Hit, mehr als 30 Jahre ist das her. Als vor sechs Monaten meine Mutter starb, stand Frank mit am Grab auf dem Waldfriedhof. So wie viele der Freunde, von denen jetzt Mixtapes vor uns im Handylampenlicht liegen. Christoph, Markus, Anke, Jens, Michael. Mixapes konnten vieles sein: Liebeserklärung, Freundschaftsangebot, Reisebegleiter, Partybeschallung, Schwermut-Stopper. Als ich mit 21 zum Studium nach Bologna zog, bekam ich von meinem Freund Christian, nicht gerade bekannt für seine Gefühlsausbrüche, ein Mixtape. Dinosaur Jr., Fugazi, Pixies, Lloyd Cole. Ein Komm-gut-An ohne Firlefanz und trotzdem eine Umarmung.
Marie holt eine Kassette aus der Plastikhülle und liest den Bandnamen mit ihrem Grundschulenglisch vor. Joh-hi-die-Vision. »Ist das eine Band? Wie klingen die?« – »Das spricht sich Joy Division.« Wie die klingen? Tja. Ich habe in Hamburg nicht mal mehr ein Tapedeck, um ihr die Kassette vorzuspielen. »Die klingen düster und die waren mal meine Lieblingsband.« – »Warst du damals traurig?« –
»Kein bisschen, es ging mir ehrlich gesagt super«, sage ich und wundere mich selbst ein bisschen. Unbeschwert und frei habe ich mich gefühlt, denke ich. »Wir fanden das einfach cool.« Es wäre jetzt angemessen zu sagen: Ach, aber das ist lange her, und dann aufzuhören, in der Restglut des 20. Jahrhunderts rumzustochern. Aber so trivial das auch sein mag: Die Musik in Kassettenform ist noch da und mit ihr die Gefühle: Hamburg nachts auf dem Fahrrad, Kaiserkeller, Nebelmaschine, Stroboskop, austicken, wenn der Refrain einsetzt. Raumfüllende Bässe, Massive Attack und ihr Überhit Unfinished Sympathy. Ich öffne auf dem Handy Spotify. Marie und ich hocken in der Dunkelheit, der Bass ist nur ein helles Klopfen im Smartphone, aber die Stimmung kommt rüber, der Gesang von Shara Nelson von Massive Attack. »Die Frau ist verliebt, oder? Und es läuft nicht so gut bei ihr, oder?« – Ich grinse in der Dunkelheit. »Gut erkannt.« Marie nickt ernsthaft. »Hört man.«
Liebeserklärungen per Kassette liegen vor mir, von Kerstin, Ex-Freundin aus Bielefeld, ich kann die Musik hören, ohne sie abzuspielen. She’s My Brand New Toy von den Jeremy Days. Dem in Hamburg lebenden Sänger, Dirk Darmstädter, der jetzt eher wie ein Erdkundelehrer aussieht (aber immer noch super Musik macht), folge ich seit Jahren auf Facebook. Falls man bis hierher noch nicht gemerkt hat, dass ich für Nostalgie empfänglich bin – Ja. Bin ich. Marie gräbt sich tiefer durch die Plastikboxen und holt eine goldene Kassette hervor. »Was ist hier drauf?« Ich kann es kaum glauben, dass es diese Kassette noch gibt. Ich bin jetzt emotional bei einer Elf von zehn möglichen. »Das?« Ich nehme ihr das Tape aus der Hand. »Ist die goldene Kassette aus Bielefeld.«
Ich bin als jüngster von drei Brüdern in der Bielefelder Vorstadt aufgewachsen. Meine Geschwister waren unerreichbar coole, sehr stark ein parfümierte, tiefer gelegte Prollkarren fahrende, gelfrisurige Popper mit übergroßen Jeansjacken. Und sie waren jedes Wochenende in Discos. Sie gehörten sogar derart zu den Stammkunden einiger Läden, dass sie dem DJ ganz, ganz, ganz selten eine leere Kassette geben durften. Die der DJ einen Abend lang für sie mitlaufen ließ. Auf dem Tape waren dann Songs, deren Übergänge ineinander geblendet waren, was man zu Hause nicht hinbekam. Auf der goldenen Kassette sind The Smiths, Front 242, Housemartins, The Cure, Visage, ABC, Heaven 17, und zwar genau in dieser Reihenfolge hintereinander gemixt. Die DJ-Tapes waren reines Gold, aber irgendwann Schrott, weil die Bänder rissen. Ich halte auf dem Hamburger Dachboden den letzten Überlebenden in den Händen. Wie. Geil. Ist. Das? Ich mache ein Foto und schicke es per WhatsApp an meine Brüder, die binnen Minuten antworten. Olli schreibt nur ein Wort: »Alter!«, bei Michael, dem anderen großen Bruder, sind es drei: »Die beste Zeit«. Auch Frank bekommt ein Foto seines Mixtapes geschickt, auch Kerstin die Ex-Freundin, auch mein Mitbewohner aus Bologna. Alle antworten. Gibt’s doch nicht, wie schön, weißt du noch.
»Und was machen wir jetzt damit?« Atemwölkchen im Handylampenlicht. Meine Tochter blickt mich an.
Wir haben an dem Hamburg-Wochenende dann beim Portugiesen gefrühstückt, sind mit dem Schiff in der Dämmerung nach Finkenwerder gefahren, haben Schnitzel im Abaton gegessen und bei Tropen Brendler eine Seemannsmütze gekauft. Dann hat meine Tochter vorgeschlagen, dass wir ein paar Kassetten mit nach Berlin nehmen. Wir entscheiden uns für 30 Kassetten, aber nehmen dann doch 50 mit. Ein Stück Vergangenheit auf der Reise in die Zukunft. In Berlin, am Sonntagabend nach Nudeln in der Küche und Zähneputzen vorm Badspiegel, hat Marie dann auf ihrem geerbten Kinderkassettenrekorder eines der alten Tapes eingelegt. Eine »Hamburgkassette«, wie sie die Tapes jetzt nennt. Oasis im Barbiehaus, Stereo MCs über Einhornbettwäsche. Marie, acht Jahre alt, dreht jetzt auf.